Es gibt Dinge, die betrachten wir als absolute Selbstverständlichkeit. Wenn wir morgens die Augen aufschlagen, gehen wir davon aus, die Welt genau so zu sehen, wie wir sie am Abend zuvor zurückgelassen haben. Als ich meine Augen an einem Wochenende im Juni 2022 aufschlug, waren da jedoch große schwarze Flecken. Woher kamen sie? Sie gehörten nicht zu dieser Welt und nicht zu der Art, wie ich meine Umgebung normalerweise wahrnehme. Aus den Punkten wurde sehr schnell ein dichter Schleier. Erst nur am rechten Auge, dann auch auf dem linken. Dazu mischte sich ein dumpfer Kopfschmerz und das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Linien begannen, sich zu krümmen, Farben verblassten, Gesichter verschwanden hinter einem grauen Fleck und Dinge, die ich direkt ansah, waren seltsam verzerrt. Und dann, nach und nach, wurde es düster um mich herum.
Ich war bereits am Samstag beim Auftreten der ersten Beschwerden ins Krankenhaus gefahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch lesen können, mit dem netten Assistenzarzt geplaudert und wollte einfach sichergehen, dass es sich um kein akutes Problem handelt.
„Alles soweit in Ordnung“, sagte man mir und wir vereinbarten einen Kontrolltermin für Donnerstag. „Wenn es schlimmer wird, kommen Sie bitte sofort!“, schärfte mir der Assistenzarzt ein und ich nickte brav. Was sollte schon passieren?
Mit jeder Minute ein bisschen weniger Welt
Doch es wurde tatsächlich schlimmer. So schlimm, dass ich am Montagmorgen fast nichts mehr sah. Ich konnte die Kinder nicht zur Schule bringen, aber es war sowieso einfacher, sie an diesem Tag zu Hause zu lassen. Ich hatte schließlich keine Ahnung, wie lange ich im Krankenhaus bleiben musste und allein der Gedanke an die spontane Organisation einer Betreuung am Nachmittag löste in mir einen panikartigen Zustand aus. Nein, mein müder Kopf war nicht imstande, sich kurzfristige Lösung zu überlegen. Zuerst sollte also meine Mutter bei den Kindern bleiben und ein paar Stunden später würde eine Freundin sie ablösen. „Ich komme bald wieder“, sagte ich zu den Kindern und küsste sie. Mit meiner miesen Sehkraft konnte ich sie kaum auseinanderhalten. Sie sind keine Zwillinge, aber mit 16 Monaten Altersunterschied sind sie beinahe gleich groß und ihr Haar ist fast gleich lang. Ihre Gesichter sah ich nicht mehr und so musste ich mich an anderen Dingen orientieren, um zu erkennen, wer gerade vor mir stand. „Mach’s gut, Mama“, rief mein Sohn. „Hoffentlich wirst du nicht blind.“
„Ja, hoffentlich“, antwortete ich und versuchte zu lächeln. „Ich bin es aber leider schon“, dachte ich bei mir, als ich die Haustür hinter mir schloss und ins Taxi sprang.
Beim Krankenhaus angekommen, versuchte ich, eine E-Mail an meine Partnerin weiterzuleiten, damit sie einen Auftrag für mich abschließen konnte. Aber wie findet man eine Mail, wenn man nicht lesen kann? Ich wusste in etwa, wie lang der Name des Absenders war und wann er mir die Nachricht geschickt hatte. Also konnte ich zumindest erahnen, wie weit ich scrollen und wonach ich Ausschau halten musste. Ich deckte mein rechtes Auge mit der Hand ab. Links sah ich zumindest noch ein ganz klein wenig, doch die Sehkraft ließ auch hier mit jeder Minute nach. „Ich glaube, ich hab’s!“, rief ich ins Telefon. „Ich schicke es ab. Sagst du mir dann, ob es die richtige Mail war?“ Ich hörte, wie meine Partnerin schluckte, dann gingen wir den Auftrag kurz durch. „Danke, dass du übernimmst!“, sagte ich noch, bevor ich in der Ambulanz der Augenklinik verschwand.
In den besten Händen
„Guten Morgen!“, sagte eine Männerstimme, als ich das Behandlungszimmer betrat. „Ist es schlimmer geworden?“
In meinem schmerzenden, von einem dichten Nebel ermüdeten Kopf ratterte es. Ist es schlimmer geworden? Wenn die Männerstimme weiß, dass ich schon einmal hier war, dann ist es vielleicht der Assistenzarzt, der mich am Samstag untersucht hat. Ich legte den Kopf schief und versuchte, an dem riesigen grauen Fleck vorbei zu schielen, um sein Gesicht zu erkennen. Ja, es musste tatsächlich der Arzt vom Samstag sein – das erkannte ich an dem schwarzen Klecks auf seinem Kopf, der seine Haare darstellte, und an den Umrissen seines Körpers.
„Ich sehe nichts mehr“, murmelte ich und setzte mich brav auf den Untersuchungsstuhl. Spaltlampe, Augentropfen, Gesichtsfeldmessung, Fluoreszenzangiographie. Das helle Licht schmerzte in meinen Augen. Der Arzt dimmte die Untersuchungslampe und entschuldigte sich. Mein Kopf brummte. Die Angst pochte in meinem Brustkorb.
„Tut Ihnen etwas weh?“, fragte der Arzt, der mir das Kontrastmittel für eine Untersuchung in die Vene spritzte. „Nein“, schluchzte ich und spürte, wie die Tränen in meine FFP2-Maske tropften. „Aber warum weinen Sie dann?“
„Weil ich Angst um meine Existenz habe“, erwiderte ich.
„Sie brauchen keine Angst zu haben“, tröstete mich eine Schwester. „Wir kümmern uns um Sie und wir tun alles, damit es wieder gut wird.“
Die Diagnose
Nichts sehen können. Ich saß im Wartezimmer der völlig überfüllten Ambulanz und versuchte, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Wie kann ich die Kinder in diesem Zustand versorgen? Wie werde ich arbeiten, wenn es so bleibt? Als Selbständige ist man im Krankheitsfall nicht besonders gut abgesichert und ich musste davon ausgehen, dass meine Augen einen irreparablen Schaden erlitten hatten. Ich wurde erneut aufgerufen. „Wir wissen, was sie haben“, sagte eine mir bereits bekannte Stimme, die jetzt fast freudig klang.
„Und?“, fragte ich und wartete gespannt darauf, was mein Gegenüber so aufgeregt werden ließ.
„Das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom.“
„Das was?“, wiederholte ich.
„Das Vogt-Koyanagi-Harada-Syndrom.“ Es sollte eine Weile dauern, bis ich den verflixten Namen erlernt hatte. Man erklärte mir, dass es sich dabei um eine seltene, in unseren Breitengraden kaum auftretende Autoimmunerkrankung handelt, die – frühzeitig erkannt – gut behandelbar ist. Sie betrifft jedoch nicht nur die Augen, sondern auch das Gehör, die Hirnhäute, Haare und Haut. „Daher also die Kopfschmerzen“, stellte ich fest. Der Arzt drückte mir ein Rezept für Kortison, Magenschutz und Calcium in die Hand und man entließ mich. Ich taumelte hinaus in diese sommerliche Welt, deren Licht wie Nadeln in meinen Augen stach. So hell. So unerträglich hell. Ich hatte mich so auf den Sommer gefreut und jetzt war ich gefangen in einem unscharfen Nebel und sehnte mich nach der schützenden Dunkelheit, die mich von meinen Schmerzen erlöste. Ich schluckte das Elend hinunter, nahm ein Taxi und fuhr nach Hause.
„Bleibst du blind, Mama?“, fragten die Kinder besorgt.
„Nein, wahrscheinlich nicht“, antwortete ich mit einer Mischung aus Erleichterung und Ratlosigkeit. Wie machen wir das jetzt bloß? Den Schulweg, das Lernen, die Arbeit, den Haushalt, das Kochen, die Spaziergänge mit dem Hund. Wie soll das denn alles funktionieren? Ich sah wichtige Deadlines auf mich zurasen und konnte kein einziges Wort lesen.
Hilfe? Denkste!
Eine Freundin machte sich auf die Suche nach Unterstützungsmöglichkeiten. Ich fühlte mich hilflos. Wie gern hätte ich selbst recherchiert, aber meine Augen konnten keinerlei Informationen verarbeiten, mein Kopf brummte, ich hatte Wortfindungsstörungen und bald schon kam ein furchtbares Klingeln in meinen Ohren dazu. Ich hörte verzerrt, sah verschwommen und glaubte bei jedem Schritt, mein Kopf zerspringt. Und das System Familie? Muss irgendwie weiterlaufen. Wir stellten schnell fest, dass es in Österreich kein niederschwelliges Hilfsangebot für Alleinerziehende gibt, die sich krankheitsbedingt gerade nur mit Ach und Krach um die Kinder kümmern können. Zumindest war unsere Suche erfolglos. Vielleicht gibt es ja etwas, aber dann versteckt es sich so gut, dass hilfsbedürftige Menschen in einer Krisensituation es nicht finden.
Ich lernte, aktiv um Hilfe zu bitten
Ich ließ die Hoffnung auf externe Unterstützung also ziehen und konzentrierte mich darauf, die Tage irgendwie zu überstehen. Ich stellte mein ganzes Leben um und fieberte den Sommerferien ungeduldig entgegen. Entlastung. Bitte, bitte, keine Schule, keine festen Zeiten, kein frühmorgendliches Aufstehen nach einer durchwachten Nacht, weil mich das Kortison nicht schlafen lässt. Wer krank ist, passt nicht ins System, muss aber trotzdem irgendwie mithalten. Anstatt sich auf die Genesung konzentrieren zu können, muss alle Energie dafür verwendet werden, weiterhin zu funktionieren. Ich bat Nachbar:innen und Freund:innen um Hilfe und bestellte Lebensmittel beim Lieferdienst, weil mich der Besuch im Supermarkt so viel Kraft kostete. Was mir früher schwer viel, wurde plötzlich zur Notwendigkeit: Hilfe anzunehmen, ist nicht einfach, aber ich war jetzt darauf angewiesen.
Dreimal in der Woche durch die sengende Hitze der Stadt zu den Kontrollterminen im Krankenhaus zu fahren, war mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum möglich. Krankheit kostet viel Geld und sei es nur für ständiges Taxifahren. Vom fehlenden Einkommen spreche ich gar nicht …
„Wie kommen Sie denn zurecht?“, fragte ein Arzt im Krankenhaus.
„Geht so“, antwortete ich und schilderte ihm die Situation. Helfen konnte er mir nicht, aber ich war ihm dankbar, dass er zumindest nachgefragt hatte. Manchmal geht es ja nur darum, gesehen zu werden. In all seinem Leid und Elend. Dann wird es schon ein bisschen erträglicher.
Viel gelernt, viel verändert – und das ist ein Privileg
Eine drohende Erblindung ist ein sehr einschneidendes Erlebnis. In meinem Fall ging es gut aus und ich konnte nach einigen Wochen wieder ganz passabel sehen. Mittlerweile sind meine Augen beschwerdefrei. „Diese Krankheit sieht immer schlimm aus“, sagte ein Arzt bei einer Kontrolluntersuchung. „Bei Ihnen hat es aber wirklich, wirklich schlimm ausgesehen. Ich bin so froh, dass es Ihnen wieder gutgeht.“
Ja, ich auch. Trotzdem spüre ich: Ein falscher Schritt, ein bisschen zu viel Stress und die Erkrankung flammt wieder auf. Es ist ein ständiger Balanceakt mit der Medikamentendosis, dem Alltag und dem Umfeld. Ich wirke gesund, bin es aber nicht. Das muss ich nicht nur meiner Umgebung ständig aufs Neue beibringen, sondern auch mir selbst.
Ich habe meinen beruflichen Fokus komplett verändert und nehme mir sehr viele Auszeiten. Atmen und die Stille zu genießen, sind jetzt in meinem Alltag so fest verankert wie das morgendliche Aufstehen. Ich spüre es, wenn die Erkrankung meinen Kopf wieder in den Nebel einzutauchen versucht. Erkenne ich es früh genug, kann ich es abfangen. Die Kinder haben gelernt, dass Mama während dieser Phasen öfter Nein sagt. Nein zu Übernachtungsgästen, nein zu einer Extratour zum Supermarkt, weil irgendjemand plötzlich Lust auf irgendetwas bekommen hat. Und ich stelle mit Erstaunen fest: Die Welt geht davon nicht unter. Wenn ich meine Grenzen spüre und sie einhalte, tut das auch den Kindern gut. Unser Familienalltag ist jetzt entspannter, denn ich übernehme mich nicht mehr regelmäßig. Ja, das ist ein Privileg, denn ich musste dafür meine Arbeitsstunden deutlich reduzieren und wir leben jetzt zum Teil von meinen Ersparnissen. Nicht jede Familie kann sich das leisten.
Gefangen in einem Teufelskreis
Krankheit führt also zu noch mehr Krankheit, denn wer sich nie ordentlich erholen kann, muss immer mehr seiner Gesundheit opfern. Eine gezielte Entlastung akut schwer erkrankter oder chronisch kranker Eltern wäre also dringend notwendig, aber das Sozialsystem bröckelt ohnehin schon an allen Ecken und Enden. Ich habe in diesen letzten Monaten gesehen, dass sich das System an den Stärksten orientiert. Die Schwachen müssen in jeder Sekunde ihres Lebens versuchen, irgendwie mitzuhalten. Wir hecheln hinterher und tun so, als sei alles gut, aber das ist es nicht. Es kostet viel Kraft, in einer Gesellschaft der Starken krank zu sein. Aber welche Wahl bleibt? Wer nicht mitkommt, landet auf dem Abstellgleis – und die Kinder auch.
Anna Lisa Kiesel hat diesen Beitrag geschrieben. Sie ist freie Texterin, Kinderbuchautorin* und Mutter von zwei Kindern. Sie schreibt außerdem einen Blog über ihre Autoimmunerkrankung.
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