Corona überall. Die Schulen machen dicht – und schicken die Kinder nach Hause. Gelernt werden soll trotzdem, sagen die Lehrer. Und dass sie den Stoff und die Aufgaben digital rüberposten.
Für uns Eltern von schulpflichtigen Kindern bedeutet das: Aufpassen, dass die Kinder nicht den ganzen Tag im Bett rumliegen. Nachfragen, ob sie schon die Aufgaben gemacht haben. Und: Als Hilfslehrer einspringen, wenn irgendwas unklar ist.
Na gut, könnte man denken, das ist ja gerade eine besondere Situation. Corona gibt’s schließlich (und zum Glück) nicht alle Tage, wochenlang schulfrei jenseits der Ferien auch nicht….
Stimmt. Doch die unverhofften Ferien sind nur ein Punkt in der langen Liste, die Eltern von Schulkindern abzuarbeiten haben. Auch ohne Virus ist Schule nicht nur für Schüler, sondern auch für Eltern oft stressig, meint Anke Willers, Journalistin und leitende Redakteurin bei der Zeitschrift ELTERNfamily.
Odyssee als unfreiwillige Hilfslehrerin als Buch
Und genau über diesen Stress hat sie ein Buch geschrieben: „Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?“ heißt das Werk, in dem Anke ihre jahrelange Odyssee als unfreiwillige Hilfslehrerin ihrer beiden Töchter beschreibt. „Eigentlich“, so sagt sie, „bin ich dreimal zur Schule gegangen: Einmal selbst in den Siebzigern und Achtzigern und dann wurde ich noch zweimal mit meinen Mädchen eingeschult. Und habe noch zweimal lesen, schreiben, rechnen geübt, die Ständegesellschaft gepaukt, die Potenzrechnung und Englischvokabeln.
Denn genau das, so sagt Anke, wird von uns Eltern stillschweigend erwartet. Weil das Bildungssystem unterfinanziert ist, weil es zu wenig Lehrer gibt, weil vieles in der Schule nur angerissen, aber nicht geübt wird und weil vor allem wir Mütter das Gefühl haben: Mit den Noten unserer Kinder wird auch unsere Erziehungsleistung bewertet. Wenn es läuft in der Schule, haben wir alles richtig gemacht. Wenn es nicht läuft, haben wir wahrscheinlich zu viel gearbeitet, für zu wenig Struktur gesorgt oder uns sonst zu wenig gekümmert.
Heute haben Ankes Mädchen beide einen Abschluss. Rückblickend sagt ihre Mutter aber: Die Schule hat unseren Familienfrieden bedroht. Und das lag vor allem auch daran, dass Kinder und Eltern nicht gut zusammen lernen können. Warum das so ist, beschreibt sie in einem Kapitel ihres Buches. Viel Spaß mit der Leseprobe von „Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule“.
Lernst du noch – oder brüllst du schon?
Bevor ich selbst Kinder hatte, war für mich klar: Es gibt ein ziemlich gutes Mittel gegen schlechte Noten – und das ist gute Vorbereitung. Meine Grundschuljahre als Hilfslehrerin hatten mich eines Besseren belehrt. Sollte sich das mit der weiterführenden Schule ändern?
»Wenn sie regelmäßig selbstständig die Hausaufgaben machen, dürfte das kein Problem sein«, hieß es beim Elternabend in der Fünften. »Wir teilen ja Übungen aus – und wer die kann, schafft auch die Schulaufgaben.« »Ja«, fand ich, »das klingt logisch.«
»Wir sind ja auch noch da«, sagten die Erzieherinnen im Hort.
»Bei uns gibt es nach dem Mittagessen Studierzeiten. Und wenn Ihre Töchter dann um vier nach Hausekommen, sollten sie das meiste erledigt haben.«
Vor meinem geistigen Auge brachen paradiesische Zeiten an. Endlich würde das eintreten, wasich vor der Grundschule eigentlich mal für normal gehalten hatte: Schule ist vor allem Kindersache. Doch ich irrte erneut.
Wir hatten zwar den Wechsel in die weiterführende Schule geschafft, aber jetzt ging es erstrichtig los: Meine Töchter mussten lernen, wie man alleine lernt. Das aber lernten sie offenbar nicht von alleine. Das musste ihnen jemand beibringen. Und mein Gefühl war: Dieser Jemand war ich. Zwar machten die Mädchen immer ganz zuverlässig ihre Hausaufgaben. Für die Schulaufgaben und Prüfungen reichte das aber nicht. Ihnen wurde einfach nichts geschenkt. Nichts ging leicht. Und schon gar nicht von alleine. Gib ihnen Zeit, dachte ich, das ruckelt sich zurecht.
Doch dann, als sich die Vieren und Fünfen häuften, wurde ich doch wieder nervös.
Am Elternabend erzählten manche Mütter, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass sie für die letzte Erdkundearbeit zu Hause Probe-Prüfungen konzipiert hätten und außerdem extra ins»Deutsche Museum« gegangen seien. Ein paar Väter waren auch da und fragten, ob das denn richtig sei, dass die Kinder jetzt schon die Dezimalzahlen bis zur dritten Stelle in Brüche umrechnen können müssten. Eigentlich komme das doch erst später dran. »Oh«, dachte ich betreten, »die kennen sich aber gut aus.« Und dann überlegte ich reflexhaft, wie das noch mal ging: mit den Dezimalzahlen und den Brüchen.
So kam es, dass ich meinen Hilfslehrerinnenjob wieder aufnahm.
Beim Autofahren nervte ich die Kinder mit Sprüchen wie »Die Klammer sagt: Zuerst komm ich. Denk ferner dran: Stets Punkt vor Strich!« oder »In fourteen hundred ninety two Columbus sailed the ocean blue.«
Und fortan gab es – mal abgesehen von den Ferien – wieder kaum ein Wochenende, an dem nichteiner von uns mit einem Kind am Wohnzimmertisch saß, abfragte, erklärte, Tabellen laminierte.
Ich befasste mich mit dem Treiben der alten Ägypter im Nildelta, mit dem der Fruchtfliegen im Sechstklasslehrplan und mit der Frage, ob Mrs Walter »after the dog looked« – oder »at the cat«.
Am Wohnzimmertisch drosch ich Phrasen wie: »Es können nur Potenzen, die die gleiche Basis unddenselben Exponenten haben, addiert und subtrahiert werden. Und das macht man, indem man die Koeffizienten addiert und subtrahiert.«
Manchmal erzählte ich dazu wilde Geschichten von berühmten YouTuberinnen, die so erfolgreich posteten, dass sie damit 10 hoch 10 Follower kriegten. »Hallo«, sagte das Siebtklässlerkind, »bloß 100 Follower, das ist ja total unfame!«
»Nicht: mal 10 – hoch 10«, sagte ich mit einer Stimme, die irgendwie nicht zu mir gehörte, »10 mal 10 mal 10 mal 10 mal …« »Also doch mal«, sagte das Kind. In Momenten wie diesen kriegte ich regelmäßig Schnappatmung. Warum musste ich das machen?
Oft kam ich mir vor wie eine Beauftragte für Homeschooling. Und dachte im Stillen: Warum gehen dieKinder überhaupt noch in die Schule? Zu Hause muss ich ja sowieso alles noch mal erklären und mit ihnen durchkauen. Eigentlich ist die Schule überflüssig, sie macht nur Stress mit ihremständigen Geprüfe. Und je mehr Gedanken dieser Art mir in den Sinn kamen, umso mehr potenzierten sich mein Ärger und mein Frust. Und das, was dann meistens am Ende dabei herauskam, war nicht nur mathematisch gesehen regelwidrig:
Ich flippte aus.
Und ich brüllte:»Verdammt noch mal, jetzt reicht’s mir aber. Setzt euch gefälligst auf den Hosenboden. Und passt inder Schule auf. Ich bin doch nicht eure Nachhilfelehrerin. Und überhaupt, wo ist das verdammte Lösungsheft von diesem verdammten Übungsbuch?« »Irgendwo unter dem Bett«, murmelte das Kind, nichts Gutes ahnend. »Was heißt irgendwo?«, fauchte ich noch wütender zurück. »Ich kaufe doch nicht ständig irgendwelche Arbeitsbücher, damit die unbenutzt in die Ecke geknallt und verschlampt werden. Ich mache das doch nicht zum Spaß. Es ist eure Mathearbeit.«Undsoweiterundsofort.
Das eine oder andere Kind brüllte zurück: »Du bist eine scheißblöde Mama. Scheißblöd hoch vier: Scheiß mal blöd mal scheiß mal blöd!« Und ich: »Hör auf zu brüllen – sonst sagt der Nachbar morgen wieder: ›Na, deine Kleine hat aber eine ziemlich kurze Zündschnur. Die hört man ja im ganzen Hof.‹«
An dieser Stelle machte ich meistens hektisch alle Fenster zu. Aber das Kind brüllte noch lauter: »Mir doch egal, was die Nachbarn denken.« Und es schien eine heimliche Freude daran zu haben, dassich immer mehr die Fassung verlor. Und schließlich aufgab.
Die Grundschullehrerin und Autorin Sabine Czerny fasst Szenen wie diese in ihrem 2010 erschienenen Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun“ etwas analytischer und wie folgt zusammen:
Schule greift heutzutage mit ihren Anforderungen massiv in das Familienleben ein und ist zum großen Teil mitverantwortlich für gestörte Eltern-Kind-Beziehungen. Dabei, so Czerny, sei eine gesunde, tragfähige Beziehung zu den Eltern einer der wichtigsten Aspekte im Leben eines Kindes. Unser Schulsystem schafft es immer häufiger, dass Eltern an ihren Kindern verzweifeln, dass die Liebe und Zuneigung zu ihren Kindern in die Abhängigkeit von deren schulischen Leistungen und den erzielten Noten gerät.
Und ja, ich war in solchen Situationen auch einigermaßen verzweifelt. Ich verzweifelte anmeinen Kindern, aber auch an mir selbst.
Ich weiß nicht, wie viele Male ich aus der Wohnung rannte, nach unten in unseren Hof. Das jeweilige Lernopfer Kind blieb oben und trat je nach Temperament mit dem Fuß gegen die Tür und warf die soeben beschriebenen Zettel aus dem Fenster (Ida) oder heulte und rief Schimpfwörter (Greta).
Ich saß dann irgendwann auf der Bank im Hof, haderte mit mir und unserem Schuldrama und versuchte meinen Puls wieder runterzuregeln. Manchmal beobachtete ich von meiner Bank aus die Nachbarinnen mit ihren kleinen Kindern, die mit roten Rutscheautos unterwegs waren. Ich dachte: »Wenn ihr wüsstet, was noch auf euch zukommt.«
Weiter gehts im Buch Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?
Interview mit Anke Willers
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