Urgroßmutter und Urenkel
Eine 96-Jährige blickt zurück.

Der 96. Geburtstag…

1921 war ein bewegtes Jahr. Der Zeppelin LZ Nordstern macht seine Jungfernfahrt. Die erste Frau fliegt alleine über die Anden. In New York City hat der Charles-Chaplin-Film The Kid seine Premiere. Hitler wird Parteivorsitzender der damals unbedeutenden Kleinpartei NSDAP. Und Eleonore Kirchner wird in einem kleinen Dorf in Niederösterreich als jüngstes von fünf Kindern geboren. Sie ist die Urgroßmutter meiner Kinder. Und ich habe sie zum Interview gebeten.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Uroma!

Ach danke! Dass ich so alt werde, das hätte ich mir echt nicht gedacht! Wobei: Meine Schwestern sind ja auch allesamt über die 90 geworden. Wir sind eine langlebige Familie…

Erzähl uns dein Geheimnis: Wie wird man denn so alt?

Nix trinken. Nix rauchen. Und immer ein bisserl was arbeiten. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Im Heim jetzt, sogar da arbeite ich noch. Ich mache in der Früh mein Bett und dann staube ich die Möbel ab. Die Schwestern hier haben wenig Arbeit mit mir. Beim Duschen am Donnerstag helfen sie mir immer. Aber sonst…

Du bist Katholikin und wohnst in einem jüdischen Seniorenheim. Wie geht denn das?

Naja. Ich hab einen Platz gesucht, weil ich hingefallen bin und nimma so gut gehen hab‘ können. Und ich hab‘ ja da nie irgendwelche Probleme mit den Juden g’habt. Ich kann mich noch erinnern. An das kleine Papiergeschäft bei uns um die Ecke. Des hat damals einem Juden gehört. Und plötzlich war es geschlossen. Und der Nachbar, der immer so gegen die Nazis geschimpft hat, der is plötzlich nach dem Anschluss in der SA-Uniform marschiert. Das hab‘ ich damals schon komisch g’funden. Furchtbare Zeiten waren das. Und wie es dann geheißen hat, dass im jüdischen Heim ein Platz für mich frei wäre, da bin ich gerne hingezogen.

Und jetzt isst du kosher, oder?

Ja. Die kochen hier irgendwie anders. Aber mir schmeckts. Aber das Brot mag ich nicht so. Mein Sohn (72 – Anmerkung) bringt mir immer Schwarzbrot mit. Da kann ich dann die Saucen damit besser auftunken. Die feiern hier im Heim die Feste halt ein anders. Und haben diese Hüte auf. Aber sonst ist ja alles gleich.

Was war denn in deinem Leben bisher am besten?

Hm. Das ist schwer zu sagen. Das weiß ich jetzt gar nicht. Früher war ich zwar jung, aber die Zeiten waren schlecht. Jetzt bin ich alt, dafür muss ich mich um nix kümmern. Schön waren sicher die Urlaube, die wir in Kroatien verbracht haben. Da war die ganze Familie immer in Mali Losinj. Da ist das Meer ganz blau. Wunderschön. Das hat mir schon gefallen.

Woran erinnerst du dich noch in deiner Kindheit?

Meine Mutter ist gestorben, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater hat dann noch einmal geheiratet. Und mit 14 Jahren bin ich dann weg von zu Hause. Als Kindermädchen. Da hab‘ ich mich um zwei Mäderl gekümmert. Mein Arbeitgeber hat damals beim Lehrer gefragt, ob ich schon früher von der Schule gehen kann. Weil er mich so dringend braucht. Bis heute hab ich kein Abschlusszeugnis. Naja – jetzt brauch ich es auch nimma.

Du hast auch den Krieg erlebt…

Ja. Furchtbar war das. Ich hab im Krieg geheiratet. Und mein Kind während des Krieges bekommen. Das war schon eine furchtbare Zeit. Mein Mann, der Opa hatte ja in Russland ein Bein verloren. Ein 27-jähriger Kriegsinvalide. So jung und schon ein Krüppel! Schlimm. Und da haben wir uns einmal in einem Keller versteckt. Insgesamt sieben Leute saßen da unten. Auf einer Ottomane. Ich hatte mein kleines Baby am Arm. Mein Kind war gerade ein paar Wochen alt. Neben mir mein Mann, der Invalide. Und noch ein paar Menschen. Hinter uns saß ein zirka 12-jähriges Mädchen. Und dann kamen die Russen und haben wahllos in den Keller geschossen. Und das Mäderl hats erwischt. Die war gleich tot. Dabei hätt es jeden von uns treffen können. Schlimm. Sehr schlimm war das…

Kann man das je vergessen?

Nein. Wer den Krieg erlebt hat, vergisst ihn nicht. Solche Zeiten sollen nie wieder kommen. Nie wieder. Oft fragst dich schon: Was haben die Leut‘ heute eigentlich für Probleme? Is alles da. Die Menschen sind dick und haben alle ein Auto und einen Fernseher.

Urgroßmutter und Urenkel
Urgroßmutter und Urenkel

Bist du da hamstern gefahren? Aufs Land?

Das hat mein Mann gemacht, der Opa. Als Invalide habens ihn auf das Dach vom Zug gehievt. Weil Sitzplätze gab es ja keine. Und dann hat er Bettwäsche gegen Eier und Fleisch getauscht. Ins Burgenland sind die immer gefahren…

Du hast nur ein Kind, einen Sohn. Hättest du nicht mehr Kinder haben wollen?

Nein. Das war wegen der Milch so schwierig. Wir haben ja dann in Wien gewohnt. Eine riesige Großstadt. Viele Menschen und wenig Essen. Wie ich selber noch die Brust gegeben hab‘, war es ja nicht schlimm. Aber dann: Es war nicht einfach an Milch zu kommen. Und die Kinder brauchen das ja zum Wachsen…

 

Rückblick auf ein bewegtes Leben.

In deinen Mann warst du gleich beim ersten Blick verliebt?

Nein. Nicht auf den ersten Blick. Den hab ich schon sehr lange gekannt. Das war der Bruder einer Freundin von mir. Wir haben uns also oft gesehen. Da hamma im Heustadl zur Musik vom Grammophon getanzt. Schön war das. Der Krieg hat uns dann getrennt. Und wie der Franzi dann verwundet zurück gekommen is, da hamma dann geheiratet. Mittlerweile bin ich schon länger Witwe als ich verheiratet war.

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Jo mei! Was soll man sich schon wünschen mit 96? 100 wäre vielleicht ganz lustig. Ist ja schon selten und was Besonderes. Und wenn ichs nicht schaff, dann halt nicht. Kann man auch nix machen. Es wäre halt gut, einzuschlafen und einfach nnicht mehr aufzuwachen…

 

Wer schreibt hier eigentlich?

Zwillingsmama, Kinderdompteurin, Geburtstagsveranstalterin, Chaosmanagerin und „Mädchen für eh alles“: Unter dem Netz-Pseudonym Anna Attersee schreibe ich hier über das turbulente Leben mit Kindern – schonungslos ehrlich, denn einer schreit hier bei uns immer… Im richtigen Leben bin ich Journalistin und arbeite im Bereich „Irgendwas mit Medien“. Mehr über mich und unsere Familie findest du HIER.

 

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12 comments

  1. ❤❤❤ Happy birthday liebe Urli!

  2. Ein ganz schönes Interview und rührend! Meine Oma aus Linz ist nicht viel jünger, hat den Krieg ebenfalls als junges Mädchen erlebt und kam als Haushaltshilfe in die Schweiz. Öliger Grösse nach Linz!

    • einerschreitimmer

      Hallo liebe Alexandra,
      hehe – ja! Du hast ja mal von der Knödel-Oma erzählt! Liebe Grüße an deine Oma! :)
      VLG

  3. Ach, was für tolles Interview! Leider kann ich meine Oma nicht mehr fragen, sie wäre jetzt auch 96 geworden. Ihre Eltern (Tatarstan, Russland) sind beide gestorben, als sie 6Monate alt war. Zuerst wurde sie von ihrer 12 Jährigen Schwester zusammen mit anderen beiden Geschwister großgezogen…. Dann brach schlimmer Hunger aus und sie landeten alle in verschiedenen Waisenhaeuser…. Jahre später fanden sie sich wieder…. Ihren ersten Mann heiratete sie mit 16, die Ehe war kurz, er hat sich umgebracht, weil jemand in Kolchose aus dem Feld was geklaut hat, und er als Buchhalter befürchtete, dass er dafür ins Arbeitslager geschickt wird. In Familie ihres Mannes wurde sie dann (Hunger auch auf dem Dorf) nicht mehr willkommen… Also musste sie in die Stadt gehen, mit 6 Klassen Bildung und hatte da einen schweren Job auf dem Eisengleiswerk gefunden…. Wo sie 60 Jahre schuftete bis zur Rente….. Sie heiratete mit 28 und bekam ein Mädchen, die Ehe war auch kurz, er kam ums Leben beim Umfall……Als Alleinerziehende, arbeitende Frau war er nicht immer leicht in muslimischem Land sich zu bestätigen…. Aber sie schaffte es. Erst mit 66 hat die Staat ihr Einsatz gewürdigt und sie bekam eine winzige 32 qm Wohnung in einem 5 Stockhaus, davor musste sie mit 4 Familien einen 24 qm Raum im Wohnheim teilen (!!) Unglaubliche Lebensverhältnisse, wenn man heute denkt. Sie war sehr offener, toleranter und warmherziger Mensch….

    • einerschreitimmer

      Hi liebe Guzel,
      was für eine heftige Geschichte! Es ist schon wirklich unglaublich was der Mensch alles ertragen und erleben kann und muss. Denke das immer wieder… Und das schönste an der Sache: Der Mensch kann trotzdem milde bleiben. Ich bin selbst sehr oft relativ starr und bockig. Und wenn man solche Sachen hört, muss man sich ordentlich an der Nase nehmen…
      VLG

  4. Tanja Diederich

    Vielen Dank für diese Lebensgeschichte! Herzlichen Glückwunsch und alles Liebe zum Geburtstag!

  5. Sehr schönes Interview Unsere Urli ist 1928 geboren und ähnlich geistig fit wie eure. Ich finds unendlich schön, dass meine Tochter noch Urlis hat…das ist schon was besonderes
    Deswegen hat sie auch den 2. Namen von dieser Urli, die bei uns aufgrund ihrer Größe die kleine Oma ist

    • einerschreitimmer

      Hallo liebe Nici,
      ja – das ist schon etwas ganz Besonderes. Im Winter war die Urli eigentlich nicht sehr fit. Jetzt im Sommer ist sie wieder voller Tatendrang. Da sieht man erst, wie sich das Wetter auf das Gemüt auswirkt.
      VLG

  6. Wie schön, dass Du diesen Artikel geschrieben hast. Meine Großmutter ist vorletztes Jahr mit 91 Jahren leider verstorben, hatte aber einen ähnliche Lebensgeschichte wie Deine. Genieß die Zeit mit deiner Oma. Liebe Grüße Christine

    • einerschreitimmer

      Hallo liebe Christine,
      danke für deine lieben Zeilen! Schön, wenn man zumindest so eine tolle Erinnerung hat an die Großeltern!
      VLG

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