IMG_8129

Warum Kinder keine Diagnosen sind…

Der Mensch braucht Schubladen. Wohl zur Orientierung und weil sie das Leben einfacher machen. Man kann strukturierter sein. Rot = stehen. Grün = gehen. Das macht auch Sinn und gibt Halt.

Diese Regeln zur Alltagserleichterung sind beim Kategorisieren von Menschen  schon ein wenig schwieriger. Während bei  Erwachsenen Einkommen, Job oder Autos viel über die jeweilige Person auzusagen scheinen, ist das bei Kindern der Charakter oder die Entwicklung.

So kann man heute Kinder als „Schreibabys“,  „High-Need“-Kinder oder als  „Hochsensibel“ etikettieren. Das ist sehr praktisch und erklärt dann auch gleich viel. Man muss nicht mehr viel erklären. Andere Mütter nicken wissend. Kind ist nicht folgsam = High Need. Das Baby weint viel = Schreikind. Achja – natürlich gibt’s dann auch noch das andere Ende der Skala. Die übrigen Kinder sind nämlich „hochbegabt“. Praktisch, oder?

Die Kinder von heute tun mir eigentlich leid. Sie sind mehr beobachtet denn je: Zu Hause, im Kindergarten oder beim Kontrolltermin beim Arzt: Da wird genau geschaut und kategorisiert. Notiert und nachverfolgt. Egal wo, wer nicht gerne schaukelt, den Stift falsch hält oder keine liebevoll gestaltete Jausenbox mit ausgestochenen Herzchen-Broten hat, gilt als höchst supekt.

Wehe dem, der auch nur minimal von der Statistik abweicht! Zu Dünn? Verdammt! Das geht nicht. Zu dick? Uh! Wirklich schwierig. Individualität ist ein absolutes No-Go. Für Nichtrutscher oder gar Hässlich-Zeichner gibt’s vermutlich bald gleich einen neuen Stempel. Am besten auf Englisch – im Idealfall auf Latein – das klingt dann viel exotischer und macht es wissenschaftlich und damit amtlich.

Früher waren Kinder einfach „ungeschickte Träumerchen“

Während mein Ehemann von seiner Lehrerin noch als „ungeschicktes Träumerchen“ bezeichnet wurde, gibt es im Kinder-Begutachtungs-Latein dafür bestimmt einen Spezialausdruck, der die Eltern per Express-Überweisung zu Ergo-, Logo-, und Physiotherapie schickt. Ich schlage den Begriff „Dormiturius gravidum“ vor. Das klingt schon mal sehr ernst und wichtig.

VERSTEHT MICH NICHT FALSCH! Klar haben all diese Therapien im Ernstfall ihre Berechtigung. Wir können uns glücklich schätzen, dass es sie gibt! Sie leisten im Idealfall große Dienste und helfen bei der Entwicklung. Aber – so zeigt es die Erfahrung – leider eben nicht nimmer… Oft muss man ein wenig tiefer über den Tellerrand blicken.

Das klingt übertrieben? Ein wenig vielleicht. Aber ich habe im Bekanntenkreis ein paar Geschichten gesammelt, die wirklich schier Unglaubliches zu Tage bringen:

  • Den Eltern des kleinen Maximilian (4) wurde etwa Logopädie angeraten, weil er das Wort (bitte haltet euch jetzt fest!) „Feuersalamander“ nicht richtig aussprechen kann.
  • Mutter Clara S. wurde im Kindergarten von den Pädagoginnen angehalten „die Jause liebevoller“ zu gestalten. Vermutlich soll sie künftig aus Obst kleine Rosenknospen schnitzen.
  • Und die Zwillinge von Freundin K. mussten beim Schuleingangstest ihren Namen schreiben. Hä? Vielleicht irre ich mich ja jetzt – aber ist nicht eigentlich die Schule dafür da, den Kindern das beizubringen? Nennt mich jetzt mal kurz altmodisch…

Übersehen wird bei der ganzen Testerei, der Begutachtung und den schönen Etiketten leider nur eines: Irgendwie geht bei der Sache der Spaß verloren, die Leichtigkeit und die Individualität. Man verzeihe es mir: Aber Kinder sind eben keine Wissenschaft. Und auch keine Diagnose, für die man dringend nach einem Fachausdruck suchen muss…

Pinne doch auf Pinterest!

16 comments

  1. Ich möchte Dich für diesen Post knutschen! Ich bin selbst eine Mutter, der allzu häufig nahe gelegt wird, doch bitte an den Kindern herumzuoptimieren. Und bei der Schulanmeldung haben wir den größten Blödsinn erlebt. Jedenfalls nervt es mich brutal, denn ich kann mich auf keine ‚Expertenmeinung‘ verlassen, sondern muss nun als ‚Ungelernte‘ herauspaldovern, was für mein Kind wirklich angebracht ist. Und gleichzeitig muss ich mir permanente Übergriffigkeit ‚Da muss man aber…‘ gefallen lassen! Inzwischen reagiere ich da zickig, denn meine Kinder haben durchaus Kleinigkeiten, die man medizinisch angehen muss, wie leichte Sehschwächen und einen zu kleinen Oberkiefer etc…

    Gefährlich finde ich aber, dass K1 sich das alles immer sehr zu Herzen nimmt und es als eigene Schwäche interpretiert, wenn es um Stifthaltung geht, oder ein Buchstabe nicht hübsch geworden ist, oder ein Bild nicht ’sauber‘ angemalt. Und da könnt ich ausrasten und allen Erwachsenen, die meinem Kind so nen Blödsinn erzählen eins über die Rübe ziehen. Das ärgert mich maßlos und ich denke, die Schule wird mich lieben. Ich gedenke nämlich dem Kind klar zu machen, dass nicht alles, was man dort lernt auch stimmt. Schon gar nicht diese Kategorisierungen…

    • einerschreitimmer

      Hallo liebe Rosalie!
      Ich finde es ja gut, wenn man Tipps und Tricks von Experten geliefert bekommt. Davon kann man nur profitieren. Bin auch dahinter, dass die Kinder den Stift richtig halten, das macht ja auch Sinn. Aber manche Kommentare von „Experten“ finde ich da sehr eigenartig. Man muss sich da schon auch ein wenig auf die Intuition einer Mutter verlassen.
      VLG

  2. Der Inhalt ist zwar ok, aber ich finde den Titel nicht gut gewählt. Sau durchs Dorf treiben, High Need bashen weil es gerade in ist, das zu tun. Ich stimme zu, dass es nicht in Ordnung ist, Kinder zu etikettieren und kämpfe auch immer dagegen an. Aber hier finde ich die Überschrift irritierend.

  3. Ich finde du vermischt da ein wenig :) Es ist was anderes, wenn das Kind von Außenstehenden einen kritischen „Stempel“ bekommt, die Eltern von Ärzten oder Pädagogen unter Druck gesetzt werden oder ob Eltern hilfesuchend Gleichgesinnte suchen, die auch ein Kind mit herausforderndem Verhalten haben. Letzteres sollte nämlich sehr ernst genommen werden und zB ein Schreibaby bedarf manchmal eben Hilfe von außen. Ich denke, es sollte Eltern einfach mehr Kompetenz zugeschrieben werden, damit keine unnötigen Therapien aufgedrängt werden, aber Hilfe angeboten wird, wenn diese gebraucht und gesucht wird. Alles Liebe!

  4. Sehr gut geschrieben…kann die vielen high need babys mit ihren high need Begriffen auch nicht mehr richtig einordnen.

    Apropos Schubladen-Denken…da hab ich noch was für euch:

    https://kellerbande.wordpress.com/2017/05/10/braucht-mein-kind-wirklich-ergotherapie/

    Als unser Sohn erst mal nicht der Norm entsprach wurde ihm Ergotherapie aufgedrückt. Ist er wirklich „krank“? Aber lies selbst.

    Lg Anja von der Kellerbande

  5. Ich stimme Dir völlig zu, dass der Opimierungswahn aktuell komplett irre ist. Gleichzeitig tut es aber sehr weh wieder diese alte Idee von mehr „Leichtigkeit“ um die Ohren geschlagen zu bekommen, falls mein Kind z.B. die meiste Zeit des Tages schreit und sich kaum beruhigen lässt. So förderst Du sicher nicht, dass jemand sich Hilfe holt wenn er/sie nicht mehr kann. Statt dessen bekommt er/sie noch gesagt, dass sein Empfinden falsch ist und man es einfach nur nicht schafft locker zu sein. Solange bis vielleicht eine Kurzschlusshandlung passiert…
    Auch die Erkenntnis, das ein Kind High-Need oder Hochsensibel ist kann enorm helfen. Dann kann man sich unter diesen Begriffen nämlich wichtiges Wissen suchen und z.B. den Alltag so gestalten, dass es Kind und Eltern besser geht. Hätte man natürlich auch ohne Begriff mit Herumprobieren herausgefunden…vielleicht…irgendwann…
    Hübscheres Obst in der Frühstücksbox und Schreibabys/High-Need Kinder/Hochsensibilität sind eben doch zwei (oder sogar noch mehr) Paar Schuhe!

    • einerschreitimmer

      Hi liebe Katja,
      schau – mir geht es im Text nicht um Erkenntnisse und Beobachtungen von Eltern. Es geht dabei eher um gute Ratschläge von außen. Und es geht vor allem um überoptimierte Kinder. Wenn Eltern Hilfe brauchen, sollen Sie diese bekommen. Es ist auch gut, dass wir in einer Welt /Region leben, in der dies möglich ist. Ich hoffe das kommt auch im Text rüber. Mir geht es darum, dass es mittlerweile für alles einen Fachbegriff gibt…
      VLG

  6. Super Artikel. Ich finde ja, erlaubt ist, was entspannt. Die eine Mutter ist entlastet die Erkenntnis, dass sie vielleicht ein High Need Baby hat und ist fortan völlig entspannt. Was wiederum unmittelbar dem Kind zu Gute kommt. ;-) Eine andere Mutter gerät bei dem Gedanken daran, dass mit ihrem Kind etwas „nicht stimmen“ könnte und nimmt bei der High Need „Diagnose“ jedes nur denkbare Therapieangebot an und stopft den Alltag des Kindes mit potentiell fördernden Aktivitäten voll.

    Wenn wir nur alle bereit sind uns gegenseitig und natürlich die Kinder so zu akzeptieren wie sind sind, Fehlverhalten nicht an der Persönlichkeit festmachen und aufhören zu verurteilen, dann entlasten wir uns wirklich. Wir können uns gegenseitig helfen, dass solche Etiketten nicht mehr nötig sind! Auf ein gutes Miteinander und jede Menge Spaß! ;-)

  7. In gewisser Hinsicht gebe ich dir recht, ein bisschen muss die Pädagogin in mir aber die Kategorisierungen verteidigen :) richtig angewendet helfen sie ja wirklich die schwerwiegenden Entwicklungsverzögerungen zu erkennen und dem Kind gezielt zu helfen. Zum Thema „High Need“ muss ich sagen, dass es mir letztes Jahr sehr geholfen hat – als ich, nachdem ich mich aufgrund meiner Unfähigkeit mein eigenes Kind zu beruhigen schon für einen Totalversager hielt, ich fix und fertig war weil ich meine Tochter über mehr als ein halbes Jahr fast nicht aus der Hand legen konnte und auf dem Zahnfleisch ging weil ich genauso lange im Sitzen schlafen musste, weil nur so Madames einzig akzeptierte Schlafposition gewährleistet werden konnte, war ich um die High Need-Diagnose wirklich dankbar. Immerhin gab es genug Kinder die genauso sind, dass man dem ganzen schon einen Namen gegeben hat und das beruhigt ungemein.

    Als schlimmer empfinde ich die Diagnosen von „Experten“: Mir wurde schon mehrfach von Wildfremden im Supermarkt ans Herz gelegt, dass ich mit meiner anderthalbjährigen Tochter doch ganz dringend zum Logopäden müsste, weil sie für das normale Niveau von Dreijährigen viel zu wenig spricht. Ist klar…

  8. Mir gefällt dein Artikel gut. Aber du hast etwas ganz Wichtiges vergessen: Die Kinder, die etwas lebhafter sind und gleich ADHS haben ;-)
    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es bei vielen Eltern schon zum guten Ton gehört, dass ihr Kind etwas „Besonderes“ haben muss, um auch nur ja Beachtung zu bekommen. Sei es nun Hochbegabung, High Need, ADHS oder Sonstiges. Da kommt man sich als Mama von zwei „normalen“ Kindern ja schon fast langweilig vor!
    Liebe Grüße, Viola
    PS: Jetzt musste ich wegen dir nochmal suchen, aus welchem Bulli-Film das Feuersalamader-Lied ist und habe einen Ohrwurm :-D

  9. Schön das es noch normale Mütter gibt, ich schätze sie Anzahl auf unter 5%

    :)

  10. da ich erst heute von dem Begriff High Need Kind gehört habe, bin ich erst spät auf deinen Blog gestossen. Ich könnte dich direkt umarmen, für das, was du schreibst. Wenn man sein Kind von Anfang an zu stark an sich bindet, ist es doch nur natürlich, dass es sich nicht trenne möchte. Reine Logik und hat nichts mit High Need zu tun. Bei uns hiess das „Verwöhnter Fratz“. Ich selbst habe als Kleinkind nachts im Schlaf aus Sämtlichen Stofftieren und Kuscheldecken das Fell ausgerupft, ich war nie bei einem Therapeuten und habe mich trotzdem zu einem gesunden Menschen entwickelt. Heutzutage gar nicht mehr möglich, da wär ich bereits mit 1,5j in Therapie gewesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert