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„Unsere Kinder sind kleine Tyrannen!“

Martina Leibovici-Mühlberger ist Ärztin, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin. In ihrem neuen Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden rechnet die Wienerin mit der Gesellschaft ab. Nicht Pädagogen und Eltern, sondern jeder einzelne ist Schuld, dass Kinder zu unzufriedenen Leistungsverweigerern geworden sind. Sie spricht von einer „Disneyland-Diktatur“.

Einer schreit immer (ESI): Sind unsere Kinder denn Tyrannen und warum?

Leibovici-Mühlberger: Ja ein gewisser Prozentsatz schon. Und dieser Prozentsatz wird immer größer. Meistens sind es die sensibleren Kinder, die für Kulturströmungen besonders empfänglich sind, die schließlich auffällig werden. Ich spreche da etwa von konsequenter Leistungsverweigerung oder von Essstörungen. All das ist ein Aufschrei der Kinder, sich gegen eine Gesellschaft zu wehren, die ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen verweigert und sie statt dessen für ihre Zwecke instrumentalisiert.

 

ESI: Welche Kinder und welche Familien sind besonders gefährdet?

Leibovici-Mühlberger: Es sind gerade die Kinder mit besonders bemühten Eltern. Der Grund liegt in unserer Gesellschaftsentwicklung. In den letzten 25 Jahren haben wir die große Freiheit und die Entfaltung unseres Potenzials als Kulturmaxime ausgerufen. Entsprechend dieses Glaubensgrundsatzes „Du bist das Wichtigste. Du entscheidest alles selber. Du machst was du möchtest.“, wollen Eltern für ihre Kinder natürlich das Beste. Sie sagen: „Ich muss meinem Kind maximale Freiheit und Förderung geben.“ Viele Eltern glauben, wenn sie Grenzen setzen, dann könnte das Kind ja einen Schaden nehmen. Dann beginnt gleich das Babyschwimmen und die musikalische Frühförderung sowie das Erlernen der Geige. Wir probieren mit den Kindern alles aus. Aber nur so lange es Spaß macht. Wenn es keinen Spaß macht, dann hören wir wieder auf damit, denn wir leben ja in einer Spaßgesellschaft.

ESI: Gerade aber diese individuellen Bedürfnisse der Kinder werden ja derzeit in vielen Kindergärten gefördert. Stichwort: „Offenes Haus“.

Leibovici-Mühlberger: Ja genau. In unseren Kindergartengruppen sind heute von 25 Kindern 25 Prinzen und Prinzessinnen, die nicht einmal mehr gemeinsam ihre Jause essen, sondern nur dann jausenen, wenn sie Lust dazu haben. Was die Kinder in all ihrer Individualität damit nicht lernen ist: Gemeinschaftsleben oder etwa eine Bedürfnisverschiebung. Sie lernen dadurch keine Selbstorganisation und auch kein Durchhaltevermögen. Sie lernen nicht, dass man sich für etwas Mühe geben muss und somit können sie dann später auch keine Freude entwickeln, die durch Selbstwirksamkeit entsteht. Ein Kind malt heute zwei Minuten und lässt dann den Stift fallen. Es wird dadurch auf die Konsumgesellschaft trainiert, die durch den Einkauf kurze Momente des Spaßes verheißt. Das ist ein Betrug am Kind. Es ist auch nicht sinnvoll, wenn heute Fünfjährige das Urlaubsziel aussuchen dürfen. Wir leben dann in einer Disneyland-Diktatur.

ESI: Warum gibt es diese pädagogischen Konzepte dann überhaupt?

Leibovici-Mühlberger: Da hat man einzelne Personen, die unter dem Druck des Gesellschaftsprimates stehen. Wer nicht als altbacken, autoritär oder schrullig gelten will, muss dieses Konzept vertreten. Hinter all dem steht aber ein gigantisches Marketing, weil wir an Kindern sehr gut verdienen und weil die Idee von Freiheit verkauft wird. Die Wirtschaft verdient mit dem Kind als Konsumprodukt und als Konsumträger. Außerdem sind Kinder und Jugendliche generell phantastischen Konsumenten. Wir haben hier einen jungen Menschen der ein untrainiertes Hirn hat. Wir haben ein Hirn, das auf Basis seiner Impulse agiert und somit haben wir viele potenzielle Konsumenten. Alleine in Österreich haben die Kinder 400 Millionen Euro an Taschengeld zur Verfügung – Kinder sind somit Marketing-Objekte.

ESI: Und wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden?

Leibovici-Mühlberger: Dann kommt das grausame Erwachen: Wir leben doch in einer beinharten Leistungsgesellschaft in der unglaubliche Konkurrenz herrscht. Die Kinder lernen dann erst im Kindergarten oder in der Schule, dass sie leise sein müssen, wenn andere sprechen. Oder dass sie sitzen bleiben müssen. Dieser Lernprozess ist dann umso schwieriger. Fraglich beleibt überhaupt, ob diese jungen Erwachsenen, die nur nach dem Lustprinzip agieren, überaupt einmal in einen Arbeitsprozess hineinfinden. Denn plötzlich brauchen wir keine Prinzen und Prinzessinnen mehr, sondern leistungsstarke Menschen. Dort laufen die Tyrannenkindern dann gegen die Wand. Die Strategie „Ich bin ein Genie“ geht dann plötzlich nicht mehr auf. Und die Reaktion der jungen Menschen zeigt dann den großen Frust. Die Eltern sind dann unglaublich enttäuscht. Die haben ja unter großem Eigenverzicht ja alles gemacht für ihr Kind. und das wendet sich dann in brutaler Form ab. Viele der Tyrannenkinder wenden sich dann auch von der Gesellschaft ab und werden Aussteiger. Also da bekomme ich eine richtige Zukunftsangst. Die nächste Generation wird uns, so wie es aussieht, einmal nicht pflegen wollen.

ESI: Deswegen plädieren Sie für ein Kinderministerium?

Leibovici-Mühlberger: Genau. Es geht darum, die Gesellschaftsverträglichkeit aus dem Blickwinkel des Kindes prüfen. Das beginnt beim Regalmanagement im Supermarkt und den Süßwarenkassen. Die billigen, minderwertigen und fettigen Lebensmittel sind ja immer auf der Höhen von Kleinkindern drapiert. Wäre das verboten, so würde man mit vielen Begehrlichkeiten gleich aufgeräumen. Aber warum passiert nicht? Klar, weil wir verdienen ja am fettleibigen Kind auch wieder gut… Und das ist letztendlich auch die Botschaft im Buch: Wir verbrennen die Generation und es wird sich rächen. Denn was die Tyrannenkinder eigentlich machen ist: Sie halten uns einen Spiegel der Gesellschaft vor den Kopf. Das zeigt sich ja auch bei all den ADHS-Kindern: Statt ihnen genügend kindgerechte Bewegungsmöglichkeiten zu geben, dämpfen wir sie pharmakologisch. Das ist meine Kritik an der ganzen Geschichte: Wir geben den Kindern nicht mehr den Aufwachsraum, der ihnen zusteht.

ESI: Autorität hat immer so einen negativen Beigeschmack. Stimmt das?

Leibovici-Mühlberger: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Autorität und Autoritär! Autoritäre Erziehungsmodelle bedeuten: „Du musst etwas tun, weil ich es sage.“ Das geschieht also aus einer Übermacht heraus, die keinen logischen Sinn hat. Autorität hingegen bedeutet, dass man als Elternteil die Bürde der Verantwortung trägt. Man hat den Auftrag, den Anvertrauten, also das Kind, zu schützen.  Das bedeutet im Hinblick auf Erziehung: Ich habe Lebenserfahrung und damit einen Erfahrungsvorsprung den ich meinem Kind auf Basis von liebevoller Bindung und Beziehung zur Verfügung stelle. Ich habe also den Auftrag mein Kind fit fürs Leben zu machen.

ESI: Haben Sie dafür konkrete Beispiele?
Leibovici-Mühlberger: Wenn etwa meine dreijährige Tochter sagt: „Ich ziehe heute lieber meine rosa Sandalen an, die finde ich schöner als die alten Winterstiefel.“ In dem Fall sage ich: „Nein, du ziehst die Winterstiefel an, weil es draußen Minusgrade hat.“ Wenn sie dann sagt: „Ich will die grün-gelb geringelte Strumpfhose zum lila-blauen Kleid anziehen.“ Dann finde ich das vielleicht scheußlich, sage aber: „Klar, probier es doch aus.“

ESI: Was kann ich nun tun? Ist es ab einem gewissen Alter zu spät um zu handeln?

Leibovici-Mühlberger: Spätestens mit der Pubertät wird es wirklich schwierig. Aber handeln kann man natürlich immer.

ESI: Eltern sind heute verunsicherter denn je, die Großfamilie gibt es nicht mehr. Dafür gibt es viele Ratgeber zu lesen. Was empfehlen Sie jungen Eltern zur Orientierung?

Leibovici-Mühlberger: Ihr seid die Experten für euer Kind. Lasst euch nicht vernebeln. Lasst euch nicht von Konsum, Materialismus und Förderwahn anstecken! Lasst euch durch das tatsächliche Talent des Kindes, das sich kontinuierlich zeigt, leiten. Wenn ihr Eltern seid, habt ihr einen unauflösbaren Führungsauftrag und diese Führung müsst ihr ausfüllen können. Versucht nicht Freunde eurer Kinder zu sein, sondern sucht euch erwachsene Freunde. Bleibt in der Position der liebevoll Führenden, die altersgemäße Grenzen abstecken. Werdet selber laut in der Gesellschaft, die einen Druck ausübt, die Kinder falsch zu erziehen. Fordert von der Politik, dass sie in Kindergarten und Schule investiert. Werdet laut in einer Gesellschaft, die eure Kinder nicht schützt und fordert ein Kinderministerium!

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3 comments

  1. Spannend wäre gewesen, zu erfahren, was sie getan hätte, wenn ihre Dreijährige dann geantwortet hätte, dass sie aber die Sandalen doch anzieht. Oder was sie getan hätte, um durchzusetzen, dass die Stiefel angezogen werden. LG, snowqueen

  2. In ihren Grundzügen hat sie schon recht. Dennoch halte ich ihre Zukunftsangst für völlig übertrieben. Jede Elterngeneration macht Fehler und jeder jungen Generation sagt jemand nach, dass sie jetzt das Ende der Gesellschaft ist. Das war bei uns schon so und bei unseren Eltern und vor 100 Jahren schon. Auch in meiner Jugend gab es schon „Tyrannen“, aus denen später trotzdem erfolgreiche Menschen geworden sind. Und es gab Menschen verschiedener Erziehungsstile, die irgendwo gescheitert sind. Ich würde das alles nicht zu sehr an der Erziehung fest machen. Ganz davon abgesehen: Wie viele Eltern sind das überhaupt, die ihre Kinder so groß ziehen? Ich persönlich kenne niemanden. Und man mag es vielleicht albern finden, dass ich meinen 10 Monate alten Sohn schon ein bisschen mitentscheiden lasse – trotzdem entscheide am Ende immer noch ich. (Und vielleicht lernt ja sogar das Kind mit den Sandalen im Winter eine wichtige Lektion für zukünftige Eigenverantwortung. Nämlich, dass es im Winter zu kalt für Sandalen ist.)

    • einerschreitimmer

      Ich glaube sie hat einfach überspitzt formuliert, dass Kinder Grenzen brauchen, was ja der Fall ist. Sie formuliert es halt extrem, damit sich das Buch verkauft… ;)

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