Wie es sich anfühlt, adoptiert zu werden: Viveka erinnert sich

Ein Polizist entdeckte Viveka. Sie lag auf den Stufen der Polizeistation. Da war sie gerade einmal ein Monat alt. In ihren ersten Jahren wuchs sie in einem Waisenhaus in Korea auf, das von katholischen Nonnen geleitet wurde. Diese gaben Viveka einen Koreanischen Namen Gong Jae Ok. Im Alter von zweieinhalb Jahren wurde sie dann von einer schwedischen Familie adoptiert. Heute erzählt sie uns ihre Geschichte…

Was sind deine frühesten Kindheitserinnerungen?

Ich erinnere mich noch daran, dass ich im Garten meinen Adoptiveltern auf einer pinken Picknickdecke gesessen habe. Meine Adoptiveltern sehe ich als meine wahren Eltern. Es war Sommer und ich muss zirka drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Außerdem kann ich mich noch daran erinnern, als ich mit meiner Mutter englische Serien im Fernsehen geschaut habe, weil sie besser Englisch lernen wollte. Und ich erinnere mich an unser Frühstück: Es gab immer getoastetes Brot mit Butter

Erinnerst du dich auch an deine ersten Jahre in Korea?

Nein, an meine früheste Kindheit in Korea kann ich mich nicht mehr erinnern. Und trotzdem muss diese Zeit mit Abschied und Neuanfang in mir etwas ausgelöst haben. Vor allem als Teenager und junge Erwachsene waren das Abschied nehmen und neue Wege in meinem Leben einschlagen immer sehr schwer für mich. Das muss mit meiner Adoption zu tun haben…

Das heißt obwohl du dich nicht mehr an die Zeit als Waise erinnern kannst, hat sie dich geprägt?

Ja, diese ersten zwei Jahre haben mein Leben geprägt und machten mich zu der Person die ich jetzt bin. Deswegen ist es für mich bis heute noch sehr wichtig, dass die Person mit der ich mich verabrede auch wirklich erscheint. Gott sei Dank habe ich liebe, verständnisvolle und geduldige Freunde, die mir bei meiner Angst geholfen habe. Aber es ist noch nicht lange her, dass ich die Tatsache, dass in meinem Leben neue Menschen eintreten und andere verschwinden, als normal ansehe. Es gibt Personen fürs Leben und Personen, die nur einen Lebensabschnitt begleiten und beides ist gut und wichtig. Ich war deswegen sogar in Therapie.

Das Verlassen werden ist also großes Thema?

Anhand meiner eigenen Tochter habe ich gelernt zu verstehen, wie wichtig die erste Bezugsperson für ein Kind ist. Mit nur 7 Monaten wissen Kinder, dass die Mutter wenn sie durch die Tür geht, möglicherweise nicht mehr zurückkommt. Meine Tochter beispielsweise tat alles in ihrer Macht Stehende, damit ich bleibe. Das war bei mir vermutlich sogar noch stärker der Fall: Ich kannte dieses Gefühl der Sicherheit im Alter von 2,5 Jahren nicht – obwohl meine Adoptivfamilie alles dafür tat mich geborgen zu fühlen. Sie sorgten und liebten mich mehr als alles in der Welt, aber leider konnten sie meine ersten Erfahrungen nicht kompensieren. Das ist leider nur wenigen Menschen bewusst. Eine Adoption ist eine wundervolle Sache und meist für alle eine Win-Win Situation. Aber man muss sich bewusst sein, dass es zu einem gewissen Grad auch ein Trauma für das adoptierte Kind und seine gesamte Kindheit und Jugend ist.

Wie war die erste Zeit bei deiner Familie? Wie schnell hast du dich eingelebt?

Als ich nach Schweden kam machte ich sogar Rückschritte in meiner Entwicklung. Ich musste wieder Windeln tragen und wollte nicht selbst essen. Meine schwedische Mutter ließ ich keinen Moment aus den Augen. Ich hatte wohl Angst sie würde mich verlassen. Sie musste mich überall mitnehmen – sogar auf die Toilette und ins Bad. Jede Mutter kennt das wohl von den eigenen Kindern.

Glücklicherweise kam ich zu dieser wundervollen Familie. Meine Mutter hat mich immer gefüttert, aber eines Tages war ich so hungrig, dass ich wieder selbst gegessen habe. Meine Familie war so begeistert, als sie sahen, dass ich es ja doch selbst auch konnte. Sie wussten es ja nicht. Es dauerte etwa ein halbes Jahr bis ich mit meiner Entwicklungskurve mit anderen gleichaltrigen schwedischen Kindern gleichgezogen habe. Ich konnte dann auch schon fliessend schwedisch sprechen. Zu der Zeit trug ich Schuhgrösse 19. Zum Vergleich: meine Tochter trägt mit 2 Jahren Schuhgröße 24. In anderen Worten: Ich war ziemlich klein als ich nach Schweden kam. Aber auch das änderte sich rasch, denn ich wuchs enorm in meinem ersten Jahr in Schweden. 

Wenn du das Wort Familie hörst, denkst du dann an deine schwedische Familie oder an deine koreanischen Wurzeln?

Natürlich denke ich an meine schwedische Familie. Das ist für mich meine richtige Familie. Sie haben all die Jahre für mich gesorgt. Sie haben mich großgezogen. Sie waren für mich in jeder Lebenslage da. Sie liebten mich und ich liebe sie über alles. Sie sind mein Ursprung, mein Kern und der Grund warum ich die bin, die ich heute auch bin. Sie brachten mir ihre Werte bei um ein guter Mensch zu sein, sie ermöglichten mir die Welt kennenzulernen: ich durfte als AuPair in die Schweiz, Studieren in Paris und meine Master Thesis in Korea fertigstellen.

Was bedeutet es für dich adoptiert zu sein?

Adoptiert sein bedeutet für mich in einem Land geboren zu sein und in einem anderen aufgewachsen zu sein. Ich wurde liebevoll von meiner Familie aufgezogen, die sich nichts sehnlicher wünschten als ein weiteres Kind. Durch meine Adoption bekam ich bessere Chancen für mein Leben, als ich es in Korea gehabt hätte. Ich glaube, dass meine leiblichen Eltern keine andere Wahl hatten als mich aufzugeben.

Adoptiert zu sein bedeutet auch zwei Ländern und Kulturen anzugehören. Damit geht aber auch ein Konflikt einher, denn ich tat mir immer schwer meine Wurzel zu finden. Bin ich Koreanerin weil ich aussehe wie ich aussehe? Bin ich Schwedin weil ich hier aufgewachsen bin? Was bedeutet es Schwedin zu sein? Was bedeutet es Koreanerin zu sein?

Bin ich Koreanerin weil ich gern quatsche und auf alle Leute zugehe? Normalerweise sind SchwedInnen nämlich eher nicht so zugänglich. Aber als ich in Korea war wurde ich überraschenderweise nicht als Koreanerin wahrgenommen, weil ich angeblich zu laut bin auch zu laut lache.

Das führte zu einem inneren Konflikt in mir während meines zweiten längeren Koreaaufenthalts. Ich kam nach Korea als eine Person und verließ Korea als eine komplett andere Person. Ich dachte immer ich wusste wer ich bin, woher ich kam und wohin mich mein Weg führen sollte. Ich war voller Zuversicht vor meinem Praktikum an der schwedischen Botschaft. Ich dachte ich würde mal Karriere machen – ich dachte ich würde mal im Ausland für ein internationales Unternehmen arbeiten, oder möglicherweise in Brüssel. Ich dachte alle würden das von mir erwarten. Aber zu der Zeit erkannte ich, dass das nicht ich bin.

In der Folge hatte ich wohl die größte Lebenskrise im Alter von 27-30 Jahren. Ich musste langsam ein neues Selbstbewusstsein aufbauen um meine eigene Identität neu zu definieren. Wer bin ich? Wer will ich eigentlich sein? Wo will ich hin? Ich musste bei null anfangen. Wäre ich nicht nach Korea gereist, hätte ich das wohl nicht erkannt. Ich bin eher ein Mädchen vom Land, das die kleinen Dinge und tiefer Konversationen liebt. Ich liebe es in einem Dorf zu leben wo alles nah ist – die Bank, die Post, der Supermarkt und der Bahnhof. Marken, Labels und all diese trendigen Sachen sind nicht so meins.

Würdest du gern deine biologischen Eltern treffen?

Ja ich würde sie gern treffen und zwar aus drei Gründen:

  • Ich würde gern wissen warum sie mich als Kind weggegeben haben. Es ist wie eine Wunde für mich, nicht zu wissen woher ich komme.
  • Ich würde gern wissen ob ich Geschwister habe und diese kennenlernen. Gibt es jemanden, der ähnlich aussieht wie ich? Ich habe sogar DNA Tests bei den beiden größten DNA Banken der Welt machen lassen. Bisher gibt es aber keine Treffer.
  • Ich würde sie gern wissen lassen, dass es mir mehr als gut geht. Sie sollen wissen, dass ich mich zu der starken, unabhängigen, empathischen, wohlerzogenen und liebevollen Frau entwickelt habe. Sie sollen wissen, dass ich ein wundervolles Leben habe und mehr als glücklich bin. Sie sollen wissen, dass ich auch eine Tochter habe. Sie sollen wissen, dass einen sehr guten Menschen getroffen habe der mich umsorgt und der für mich da ist: in guten wie in schlechten Zeiten. Jemanden der mich liebt wie ich bin.

Kannst du dich noch an den Moment erinnern, als du erfahren hast, dass du adoptiert wurdest?

Ich erinnere mich, dass ich im schönsten Raum des Hauses mit meinen Eltern gesessen bin. In den Raum durften wir Kinder eigentlich nicht rein weil dort viele zerbrechliche Dinge standen. Meine Mutter und mein Vater erklärten mir voll Stolz, dass ich aus Korea adoptiert wurde. Sie zeigten mir Bilder und erzählten mir Geschichten aus meiner frühen Kindheit. Sie zeigten mir auch die ganzen Adoptionspapiere. Ich wiederholte dann auch voll Stolz, dass ich aus Korea adoptiert wurde und dass meine Haare dunkel und meine Augen braun waren. Ich war damals noch sehr klein.

Ich nahm es wie eine Eigenschaft an mir – als ob ich beispielsweise Linkshänder wäre. Es war kein ”big Deal” für mich.

Wie denkst du über deine Adoption heute?

In meiner frühen Kindheit habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Im Teenageralter war es allerdings dann schwierig für mich und ich hatte eine wirkliche Identitätskrise in der ich nicht wusste ob ich schwedisch oder koreanisch war. Wie schon erwähnt: Ich war weder typisch schwedisch noch eine typische Koreanerin – da ich weder Sprache noch Kultur kannte.

Es fiel mir auch schwer mich mit anderen koreanischen Adoptivkindern zu identifizieren. Ich wollte Leute auf Basis ihrer Persönlichkeit treffen und nicht wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft.

Mittlerweile liebe ich es adoptiert zu sein. Das gibt meinen Wurzeln einen exotischen Touch. Meine Erfahrungen in Korea halfen mir zu verstehen wer ich wirklich bin: Ich bin Viveka, schwedische Staatsbürgerin, aufgewachsen in Schweden, gemeinsam mit meiner Schwester. Ich habe ein tolles Leben, großartige Freunde und eine wundervolle eigene Familie. Es ist toll, wenn man zwei Nationen, Länder und Kulturen als Hintergrund hat.

Denkst du manchmal daran selbst ein Kind zu adoptieren?

Ehrlicherweise nicht wirklich. Ich habe immer davon geträumt biologische Kinder zu haben und glücklicherweise wurde ich Mutter einer wundervollen kleinen Tochter.

Es hat für mich auch einen Beigeschmack und ist eine schwermütige Sache nichts über die eigene Geschichte der ersten Jahre zu wissen. Diese Geschichte ist ein Teil von mir, aber leider habe ich keine Geschichte mit meinen leiblichen Eltern. Das macht mich traurig.

Was möchtest du den Lesern sonst noch erzählen?

Ich habe die Fragen sehr genau beantwortet, weil ich den Lesern einen Einblick gewähren möchte, was es bedeutet adoptiert zu sein. Das ist mein Leben. Das ist meine Geschichte, mit der ich auch andere Adoptierte erreichen will und ihnen sagen möchte, dass sie nicht allein sind. Die Gefühle eines adoptierten Menschen sind meist geprägt von Dankbarkeit, Glück und nur selten von Wut, Trauer oder Eifersucht. Die positiven Gefühle sind leichter zu greifen, aber die negativen sind schwerer in Einklang zu bringen, weil es immer viele Seiten der Geschichte gibt die man betrachten muss. Nicht nur eine.

 

Nachsatz

Lisbeths Mann Jürgen lernte Viveka bei seinem Auslandssemester in Schweden kennen. Als ihr offener Brief „Don’t Cry For Me, Korea“ kürzlich durch die sozialen Medien ging, waren wir berührt und stellten ihr einige Fragen. Ihre Antworten haben wir so gut es geht wortgetreu und ungekürzt übersetzt, damit ihre Geschichte und ihre Botschaften auch richtig ankommen.

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