Kindergarten
Wie gehen erfahrene Pädagogen mit kleinen Trotzköpfen um? Erziehungsexpertin Jaqueline De Deugd im Interview.

Warum sind die Kinder im Kindergarten so brav und zu Hause nicht? (Glosse + Experteninterview)


Das Paralleluniversum Kindergarten ist ein Unergründliches. Als ich die Zwillinge kürzlich  dort abholte, und sie mich noch nicht bemerkt hatten, konnte ich etwas schier Unglaubliches beobachten: Micky saß auf seinem kleinen Sesselchen und goss äußerst behutsam und vorsichtig Wasser aus einer großen gläsernen Karaffe in sein Glas. Ich war schwerst beeindruckt aber auch irgendwie verstört. Als er schließlich mit dem Essen fertig war, nahm er seinen Teller und trug ihn ohne Gejammer zu einem Servierwagen. Potzblitz! Gibts das wirklich? Ist das etwa mein Kind?

Aber es sollte alles noch viel abenteuerlicher werden: Die kleine Maus aß nämlich Couscous und hatte ohne großem Murren die Brille auf der Nase… HÄ? Couscous UND Brille? Das sind ja gleich zwei Wünsche auf einmal! Ich hätte beinahe hyperventiliert! Als ich nämlich das letzte Mal bei uns zu Hause Couscous zubereitet hatte, wollten die Kinder damit eine Sandburg bauen. Das wars dann auch mit dem Couscous-Experiment. Und die Brille reißt sich der kleine Gangster immer sofort in hohem Bogen von der Nase. Die Kindergartenleiterin behaupt sogar, die kleine Maus würde Obst essen – ich glaube aber, dass sie lügt…

Es drängte sich mir natürlich trotzdem die Frage aller Fragen auf: Was machen die besser als ich?

Der Ton ist liebevoll, das Regiment streng. Und während ich schon bei dem Gedanken mit 30 Kleinkindern einen Ausflug machen zu müssen Blut schwitze, ist das für Kindergärtnerinnen mal eben eine „kleine Abwechslung“. In Zweiterreihe maschieren die dann zum nächstgelegenen Spielplatz. Ich frage mich ja auch, wie die es schaffen, dass sich 30 Kinder gleichzeitig anziehen? Es ist unfassbar: Da sind  zwei tiefenentspannte Damen, die einen Rudel voller Kleinkinder leichter bändigen als ich meine zwei Zwerge. Der beste Ehemann von allen nennt gerade deshalb die Kindergärtnerinnen auch nur „Die Navy Seals der Pädagogik“. Die räumen nämlich das Feld von hinten auf…

Sie entschärfen die Minenfelder der schlechten Angewohnheiten und  trotzige  Widerstandsnester werden strang aber liebevoll einfach weggelächelt. Und das alles so nebenbei! Diese äußerst geduldigen und tendenziell unterbezahlten Menschen schaffen das, was mir teilweise graue Haare bereitet.

Interview mit Erziehungswissenschafterin und Pädagogin Jaqueline de Deugd

Die Trotzphase im Kindergarten – gibt’s die überhaupt?

Natürlich – es ist ja eine Entwicklungsstufe, die die Kinder unabhängig von örtlichen Gegebenheiten erleben. Der Unterschied zum Verhalten zu Hause ist, dass die Kinder mit den Pädagoginnen im Kindergarten nicht familiär verbunden sind – sowohl Setting als auch Beziehungsqualität sind natürlich herzlich, aber dennoch anders als zu Hause. Außerdem verfügen Erzieherinnen durch ihre Ausbildung über ein gewisses Handlungsrepertoire und spezielle Strategien, wie man einem Kind begegnet, das seinen Willen zum Ausdruck bringt.

Na dann lüften Sie mal bitte das Geheimnis!

Fakt ist, dass Eltern ja oft etwas von ihren Kindern wollen: Die Kinder sollen sich anziehen, weil man einkaufen gehen muss. Der Nachwuchs soll aus dem Schwimmbad gehen, weil es spät ist, kalt wird und man nach Hause will. Man macht eine Aufforderung und die Kinder stellen sich dagegen, weil sie ihren Willen bekunden wollen. Doch eben in dieser Situation – man hat vielleicht einen wichtigen Termin – sollen die Kinder nun tun was man möchte oder was eben notwendig ist. Stress und Zeitdruck kommen ins Spiel. Das ist das Problem.

Die Erzieher haben es insofern leichter, weil sie von den Kindern nichts wollen, sondern ihnen stets etwas anbieten. Demnach ist alles ein Kann und kein Soll. Im Kindergarten müssen die Kleinen nicht Englisch lernen – sie können aber wenn sie möchten. Professionelle Erzieherinnen haben eine gewisse emotionale Distanz und können dadurch leichter handeln. Die Beziehung zu den Kindern ist deswegen nicht besser oder schlechter – sie ist einfach anders. Die Eltern wollen ihren Kindern oft auch etwas ermöglichen, das sie für wichtig halten, die Kinder halten es aber nicht für wichtig. Etwa einen Englischkurs oder eine Spielgruppe. Dafür bezahlen die Eltern und erwarten sich dadurch natürlich auch Ergebnisse. Im Kindergarten sind solche Kurse immer nur Angebote, keine Pflichtveranstaltungen.

Sie sprachen von einem Handlungsrepertoire – haben Sie konkrete Beispiele?

Die Zauberformel ist ganz einfach: Man muss dem Kind Entscheidungsmöglichkeiten geben. Dieses und jenes wäre zu tun – wie kannst du dich einbringen? Ein Beispiel: Wenn es draußen beispielsweise stürmt und schneit und das Kind keine Stiefel sondern Sandalen anziehen will, dann geht das natürlich nicht. Es gibt aber eventuell die Möglichkeit, warme und gefütterte Gummistiefel anzuziehen. Man stellt das Kind vor die Wahl: „Willst du die Winterstiefel oder die warmen Gummistiefel anziehen?“ Das wäre eine dieser Lösungen, die man gut ausverhandeln kann.

Wie ist das bei kleineren Kindern die ihre Wünsche noch nicht so artikulieren können?

Wenn ganz kleine Kinder einen Trotzanfall haben, dann ist es eben keiner. Es geht darum, sich die Frage zu stellen: „Warum weint mein Kind jetzt?“ Vielleicht hat es Bauchweh? Bekommt es Zähne? Gibt es andere Gründe warum das Kind emotional instabil ist? Trotz hat immer etwas mit eigenem Willen zu tun und beginnt erst ab dem Alter, wo Kinder geistig in der Lage sind in einen Dialog zu treten – egal ob verbal oder nonverbal.

Stimmt es, dass Kinder oft zu Hause trotziger sind als anderswo, weil sie sich da am sichersten fühlen?

Natürlich sollen sich Kinder in ihrem Sein zu Hause angenommen fühlen. Sie müssen wissen, dass ihre Eltern zu ihnen stehen, egal was passiert. Das heißt aber nicht, dass Kinder zu Hause alles dürfen sollen. Es kann nicht sein, dass sich ein ganzes System auf ein Kind einstellt und dabei selber auf der Strecke bleibt. Denn: Wenn sich alles um das Kind dreht, dann wird es für die Eltern anstrengend und zehrt an den Nerven. Solche Situationen hält keiner lange durch.

Die grundlegende Frage ist also: Wie kann ich als Elternteil konsequent verhandeln ohne dabei autoritär zu sein? Autorität und Strafen bringen in der Erziehung nichts. Sie sind eher störend und starten einen Machtkampf, den man als Elternteil immer verlieren wird. Es geht in der Trotzphase um liebevolle Konsequenz und einen rücksichtsvollen Aushandlugnsprozess von Wünschen. Es kommt auch sehr drauf an, ob man ein Kind verführen will etwas zu tun – auch das klappt langfristig nicht. Die Kleinen merken das nämlich sofort, dass sie quasi erpresst werden.

Stichwort Aushandlungsprozess: Wie kann der am besten klappen?

Durch einen ehrlichen Umgang und der Verbalisierung von Wünschen. Ein Beispiel: Die Familie hat einen Ausflug in den Tierpark geplant. Doch bevor alle abfahren, möchte man noch schnell die Wäsche aus der Waschmaschine aufhängen. Die Kinder quengeln, weil sie große Vorfreude auf den Zoo haben. Die Abreise verzögert sich aber. Man kann den Kinder ruhig erklären, dass man diese Aufgabe noch erledigen muss, weil man sonst am nächsten Tag nichts zum Anziehen hat. Eventuell können die Kinder sogar mithelfen die Wäsche aufzuhängen damit es schneller geht (fraglich ob es wirklich schneller ist) und dann können alle gemeinsam abreisen.

Wie kann man Regeln am besten einführen?

Langsam und schrittweise. Es nützt nichts die Kinder eine Liste an Verhaltensvorschriften auswendig lernen zu lassen. Regeln müssen behutsam und gemeinsam mit dem Kind ausgemacht und eingeführt werden. Man kann etwa in der ersten Woche bestimmte Tischregeln besprechen und dann schauen ob sie klappen. Eventuell kann man die Tischregeln dann adaptieren. Eine Woche später dann das Zubettgeh-Ritual so anpassen, dass es für alle Beteiligen in Ordnung ist. Fakt ist: Für das Zusammenleben in einer Gruppe brauchen wir gewisse Regeln, sonst funktioniert der Alltag nicht. Egal ob das im Staatsgefüge ist, oder in der Familie oder in der Schule. Es geht darum, dass sich alle wohlfühlen müssen, weil sonst ein Gemeinschaftsleben nicht möglich ist.

Was, wenn die Regeln nicht eingehalten werden?

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Kinder und Menschen in einer sozialen Gemeinschaft leben wollen. Wenn Kinder gegen Regeln verstoßen, dann braucht es eine Möglichkeit, dass die wissen: „Wie kann ich es wieder gut machen?“ Wenn also das Kind beispielsweise mit Essen wirft, dann kann man gemeinsam putzen. Wenn ein Kind ein anderes schubst, dann soll es sich entschuldigen. Es wird einsehen, dass sein Verhalten die anderen gestört hat.

Was machen Strafen mit der Persönlichkeit von Kindern?

Eine Strafe stellt immer das Negative in den Vordergrund und löst somit negative Emotionen aus. Das Kind geht automatisch in den Widerstand, ein Einsehen gibt es nicht. Vor allem fällt der Aspekt des Wiedergutmachens völlig flach und so wird ausschließlich negative Energie erzeugt. Was hinzukommt ist, dass „die strafende Person“ sich in eine mächtigere Position stellt. Nichts ist schlimmer als mit Kindern in einen Machtkampf zu treten. Denn Kinder fürchten sich nicht schnell vor etwas… Das wird dann vor allem für die Erwachsenen sehr schmerzhaft wenn sie merken, dass die Kinder das Machtspiel weiter und weiter spielen…

Was raten Sie Eltern also?

Als Elternteil sollte man die Trotzphase nicht als etwas Negatives betrachten. Das nimmt schon einmal viel Druck weg. Es ist doch schön, wenn Kinder ihren eigenen Willen entdecken! Es zeigt, dass es kluge Kinder sind, die ihren eigenen Weg gehen wollen, die selbstbestimmt handeln möchten. Es sollte nie „Willen gegen Willen“-Situationen geben, sondern man sollte sich vielmehr die Frage stellen: „Wie kann ich mein Kind unterstützen, sich selbst autonom zu erleben?“ Das heißt aber nicht, dass man ständig nachgeben sollte.

Über die Interviewpartnerin Jaqueline de Deugd

Jaqueline de Deugd unterrichtet seit 28 Jahren angehende Kindergärtnerinnen und ist seit fünf Jahren Fachvorständin der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik in Linz (Oberösterreich). De Deugd ist Mutter zweier Töchter und hat sowohl Trotzphase wie auch Pubertät schadenfrei überlebt.

Der Text stammt aus unserem Buch „Die Trotzphase ist kein Ponyhof“. (Werbelink)

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3 comments

  1. Eine interessante Ansicht! Meine Nichte hat das gleiche Problem. Sie ist in Kindergarten so brav und umgekehrt zu Hause. Ich und meine Schwester diskutieren darüber oft, aber haben noch keine Idee. Ich werde Deine Ansicht ihr zeigen.

  2. Meine Schwester hat einen 2-jährigen Sohn, der bald in den Kindergarten soll.
    Wir alle sind ganz gespannt, wie er es schaffen wird, da er früher fast nie mit den fremden Menschen war. Auf jeden Fall leite ich diesen Beitrag an meine Schwester weiter, da er sie bestimmt interessieren wird.

  3. Sehr guter Artikel und man erkennt sich als Mama und das Kind in seiner Trotzphase direkt wieder.. Ich sah unsere ältere Erzieherin welche unser Kind quasi an Arsch und Kragen sehr bestimmt packte, um es bei Kita Schließung/Feierabend mir zu übergeben.. Sie hat es verbal nicht verstanden, dass Mini noch die Jacke schließen wollte (obwohl es sehr heiß war) und es aber nicht gelang was dem Kind aber sehr wichtig war und es dann sauer und enttäuscht war.. Ich kam mir vor wie in einem falschen Film.. Wäre es denn jetzt ‚richtiger‘ gewesen der Erzieherin zu sagen Finger weg von meinem Kind?! Habe es dabei belassen sie aufzuklären, dass Mini unzufrieden ist, weil die Jacke nicht zu ist/geht.. Sie wirkte ziemlich überfordert.. So ist das, wenn Erzieherinnen fehlen! Die leidtragenden sind immer die Kinder und ihre Gefühle.. Müssen wir uns dann fragen warum die Generation so crazy wird?! Macht es Sinn sich im Tobsuchtsanfall neben das Kind zu werfen auf den Boden damit es mal sieht wie blöd das wirkt?! Verspotten will man es ja auch nicht.. Schwierige Phase und unter Zeitdruck reagiert man sicherlich öfter falsch wie diese Erzieherin auch..

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